Zenon ist ein griechischer Philosoph des Altertums (ca. 450 v.Chr.), der schon in der klassischen Zeit der griechischen Philosophie berühmt war wegen seiner „Paradoxien“, die z.B. auch von Aristoteles diskutiert wurden. Das wegen seiner Plastizität berühmteste Paradox, dass der schnelle Läufer Achilles die langsame Schildkröte, rein räumlich gesehen, nie einholen kann, ist eine bildhafte Einkleidung und kompliziertere Fassung von Zenons „Dichotomie“ (Halbierung):
Ein Körper [z.B. Achilles] durchläuft die Strecke AB. Auf seinem Weg berührt er zunächst den Punkt a1, die Mitte zwischen A und B, danach a2, die Mitte zwischen a1 und B, dann a3, die Mitte zwischen a2 und B, und so fort ins Unendliche.
Abb. 5.01
Auf der Strecke AB berührt der Körper also unendlich viele Punkte. Doch es ist [für
einen physischen Körper, z.B. Achilles] unmöglich, eine unendliche Zahl von Punkten zu berühren. Folglich kann der Körper sein Ziel, B, nicht erreichen. In anderen Worten:
Ein Körper auf dem Weg von A nach B vollzieht unendlich viele Handlungen. Es gibt auf dieser Strecke unendlich viele Punkte, und wenn der Körper B erreichen will, muss er sie alle berühren
. Das bedeutet:
(1) Wenn etwas sich bewegt, vollführt es unendlich viele Handlungen.
Dem setzt Zenon entgegen:
(2) Nichts kann unendlich viele Handlungen durchführen. Folglich gibt es keine Bewegung. [1]
Bei der etwas komplizierteren, bildhaften Fassung dieser Paradoxie „Achilles und die
Schildkröte“ durchlaufen beide jene unendlich vielen Punkte, nur daß die Schildkröte dem Achilles an dem jeweils betrachteten Halbierungspunkt, räumlich gesehen, jeweils
ein Stück voraus ist - und dies ad infinitum; Achilles kann also die Schildkröte, rein räumlich gesehen, nicht einholen.
Allerdings gibt es bei dieser Achilles-Paradoxie eine Unlauterkeit: Achilles ist vorausgesetztermassen schneller als die Schildkröte (sagen wir: doppelt so schnell).
Damit ist implizit der Zeitbegriff (via Geschwindigkeit) in der Konstruktion enthalten. Sie lässt sich somit nicht mehr auf die rein räumliche Betrachtung beschränken, wie dies
Zenon tut. Die Zeitbetrachtung konterkariert jedoch die rein räumliche Betrachtung. (Denn wenn Achilles 100 m in der Minute läuft und die Schildkröte 50 m, dann muss
Achilles die Schildkröte in genau einer Minute eingeholt haben, wenn die Schildkröte zum gleichen Startzeitpunkt der beiden 50 Meter Vorsprung hatte.) Deswegen ist in der
oben dargelegten „Dichotomie“ jene Paradoxie makelloser herausgestellt, da es nur um eine rein räumliche Betrachtung geht. Darum soll primär diese „Dichotomie“ erörtert
werden, d.h. Achilles rennt los ohne die Schildkröte und „berührt“ unendlich viele Punkte, will er am Ziel ankommen.
Unter der Rubrik „Merkwürdiges und Scherzhaftes“ wurde in einem früheren bundesdeutschen Standard-Lehrbuch für Höhere Schulen [2] im Kapitel „Unendliche
geometrische Folgen und Reihen“ auch das „Sophisma" des Philosophen Zeno von Elea“ erwähnt:
<Achilles verfolgt eine Schildkröte, die einen Vorsprung von 1 Stadion [3] hat, mit
10facher Geschwindigkeit. Wenn Achilles dahin gelangt, wo die Schildkröte anfangs war, so ist diese um 1/10 Stadion voraus; hat Achilles diese Strecke durchlaufen, so ist die
Schildkröte um 1/100 Stadion weitergekrochen usw. Achilles kann also die Schildkröte nie einholen. Worin liegt der Trugschluss? Wo holt Achilles die Schildkröte wirklich ein?
Zeichne einen „graphischen“ Fahrplan dieser Verfolgung (Strecke waagrecht, Zeitachse nach oben; [...]>
Peter Habermehl [4] stellt fest, daß (1) [Wenn etwas sich bewegt, vollführt es unendlich
viele Handlungen] nicht widerlegbar ist:
<Hinter der physikalischen Fassade dieses Paradoxes verbirgt sich ihr solides
mathematisches Fundament: eine geometrische Strecke ist definitiv unendlich teilbar. Um so lebhafter wird These (2) diskutiert. Warum ist es unmöglich, unendlich viele
Handlungen durchzuführen? Handelt es sich um eine physikalische oder um eine logische Unmöglichkeit?> [5]
Wie steht es mit (2) Nichts kann unendlich viele Handlungen durchführen. Folglich gibt
es keine Bewegung. Habermehl stellt kurz die beiden Widerlegungsversuche des Aristoteles vor. Im ersten meint Aristoteles die doch bekanntermaßen endliche Zeit einer
Bewegung als empirisches Argument anführen zu können; doch sieht er selber ein, daß auch die Zeit, analog zur Strecke in unendlich viele Punkte unterteilt werden kann. Im
zweiten Widerlegungsversuch führt er zwei verschiedene Unendlichkeiten ein: potentiell und aktuell. Die Bewegung durcheile die potentielle Unendlichkeit, sie mache nicht an
jedem Punkte Halt, sie durchlaufe also nicht die aktuelle Unendlichkeit. Schließlich stellt Habermehl zum Schluss seines Artikels über Zenon fest:
<Mehrere zum Teil ingeniöse moderne Lösungen, die (2) [Nichts kann unendlich viele
Handlungen durchführen, folglich gibt es keine Bewegung] stützen [eigentlich [6]: widerlegen] wollen, erweisen sich alle in vergleichbarer Weise als fehlerhaft. So lässt sich
zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur festhalten,daß (2) wahrscheinlich falsch ist, es jedoch unmöglich scheint zu beweisen, daß (2) falsch ist. In These (2), die so offenkundig die
Begrenztheit all unseres Tuns verkündet, liegt in der Tat die Faszination der Dichotomie. Doch der schlüssige Beweis, pro oder contra, steht nach wie vor aus. >[7]
Mir ist nicht einsichtig, wieso Habermehl den zweiten Widerlegungsversuch des
Aristoteles (potentielle und aktuelle Unendlichkeit) zur Seite schiebt. Wenn nämlich Zenon zugibt, dass Achilles die halbe Strecke zurücklegen kann, so hat Achilles doch innerhalb dieser Strecke unendlich viele Punkte „berührt“, wie hat er es also nur
geschafft bis dorthin zu kommen? Diese „Berührungspunkte sind wohl eher Markierungspunkte (die de facto keine „Handlungen“ erfordern) an denen Achilles ohne
Halt zu machen vorbeieilt, also das, was Aristoteles offenbar als potentielle Unendlichkeit bezeichnet. Zenon würde aber vielleicht entgegnet haben: Wir bilden uns
das nur ein, dass Achilles schon die halbe Wegstrecke zurücklegte. Ich wollte Euch ja nur zeigen, zu welch absurden Konsequenzen solche Einbildung führt!
05.2 Die mathematische Sichtweise
Üblicherweise wird von mathematisch geschulten Leuten als Argument gegen Zenon
angeführt, dieser habe noch nichts von der Summe unendlicher Reihen gewusst.
Z.B. sei ½ + ¼ + ⅛ + ... = 1 . Wenn also Achilles losrennt (ohne die Schildkröte), so ist
die Hälfte der Wegstrecke (der erste Markierungspunkt) plus ein Viertel der Wegstrecke (der zweite Markierungspunkt) plus ein Achtel der Wegstrecke (der dritte
Markierungspunkt) usw. schließlich einmal die gesamte Wegstrecke:
½ × 100m + ¼ × 100m + ⅛ × 100m + ...= (½ + ¼ + ⅛ + ...)×100m = 1×100m
Dies läßt sich ja auch anhand der Abb. 5.01 plausibel machen, wenn man die Strecke AB = 100m setzt.
Das, was meiner Ansicht nach Zenon tatsächlich aufgezeigt hat, ist die Paradoxie des
atomistischen Denkens. Wenn man konsequent nur (‚rational’) atomistisch [8] denkt, dann müßte sich Achilles albtraummäßig in der Unendlichkeit der Berührungspunkte, die
sich kurz vorm Ziel immer mehr vor ihm auftürmen, immer tiefer verstricken (entsprechend verkleinert sich die Geschwindigkeit des Achilles immer mehr). De facto
aber erreicht ja ein realer Achilles die Zielmarke, ohne sich vorher im Unendlichen zu verstricken. Also ist das rein atomistische Denken nicht realistisch. Tatsächlich beruht
die mathematische Sichtweise der obigen unendlichen Summierung der Reihe ½ + ¼ + ⅛ + ... = 1 auf dem dialektischen Zusammenwirken von atomistischem mit
ganzheitlichem Denken. Denn einerseits wird die real durchlaufene Strecke durch das Durchlaufen der Einzelpunkte der einzelnen abgeschlossenen Teilsummen ½, (½ + ¼),
(½ + ¼ + ⅛), ... hergestellt, andererseits finden diese unendlich vielen Einzelpunkte ihren Abschluß in jener Ganzheit AB = 1. Und deswegen wird vernünftigerweise die
Summe s dieser unendlichen Reihe ½ + ¼ + ⅛ + ... gleich 1 gesetzt (s = 1), obwohl die ‚Summe’ dieser Reihe für manche atomistischen Rationalisten ja eigentlich niemals gleich 1 wird. Diese 1 sei lediglich ein Grenzwert. [9] In den Formelsammlungen tauchen solche Unterscheidungen nicht auf, da ist völlig zu recht ganz pragmatisch von „Summe“ die Rede.
(Fortsetzung 06 - Torricelli)
[1] Die hier zitierte prägnante Kurzfassung dieser Zenon´schen Paradoxie stammt aus
dem Artikel von Peter Habermehl in: Metzler Philosophen Lexikon, S. 830 (Zenon von Elea). Einschübe in eckigen Klammern sowie fett gedruckt vom Verf. M.A.
[2] von Lambacher-Schweizer „Analysis“, 3. Auflage 1968, S. 25.
[3] rund 192 m
[4] in seiner guten und kurzen Darstellung von Zenons Paradoxie im „Metzler Philosophen Lexikon“, S.829 ff.
[5] Metzler Philosophen Lexikon, S. 830
[6] Hier könnte Habermehl evtl. ein Lapsus unterlaufen zu sein. Es wird wohl -
kontextgemäß - statt „stützen“ „widerlegen“ heißen müssen.
[7] Metzler Philosophen Lexikon, S. 831
[8] D.h. die Welt ist zusammengesetzt rein aus Individuen, individuellen Elementen, Einzelteilen, einzelnen Punkten u.dergl.
[9] So auch bei Lambacher-Schweizer S.23 in den Bemerkungen: „Die <Summe> einer
unendlichen Reihe ist keine Summe im üblichen Sinne, da man immer nur endlich viele Glieder addieren kann. Die Bezeichnung <Summe> stellt lediglich eine Abkürzung für
<Grenzwert der Folge von Teilsummen> dar.
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