Am Ende des vorigen Kapitels (Torricelli) wurde folgendes formuliert:
<Demnach kann geometrisch gezeigt werden, daß es einen vollkommen eindeutigen äußeren (ganzheitlichen) Rahmen gibt, nämlich das Dreieck mit den Seiten
QCS, in das die einzelnen Glieder (d.h. die unendlich vielen Einzelheiten jener treppengestuften kleineren Dreiecke) logisch zwingend hineinverwoben sind. Einzelteile und Ganzheit sind dabei dialektisch und logisch
aufeinander bezogen. Die Interessantheit der Beweisführung liegt offenbar darin, daß sich die Summe der unendlichen geometrischen Reihe schließlich aus einfachen Ganzheitsbetrachtungen, die daraus folgen, bestimmen läßt.>
Ich vermute, die leitende Idee, die hinter dem problematischen philosophischen Erklärungsversuch der `Momente´ Newtons steckt, ist die aus der Antike
überlieferte Idee des Atomismus. Demnach wird jede Realität, jede Ganzheit sich aus Teilen zusammengesetzt erklärt - und sonst nix. Und irgendwann, wenn man immer
weiter die Stufenleiter der Zusammensetzungen hinuntergeht, gibt es letzte kleinste Teilchen, aus denen sich alles zusammensetzt, die Atome. Und alles wird dadurch erklärbar!
Doch verstrickt man sich dann zwangsläufig in Paradoxien, vor denen man gerne die Augen verschließt, sofern einem jener Atomismus als das einzig Plausible erscheint.
Damit will ich verallgemeinernd sagen: um die Infinitesimal- und Differentialrechnung philosophisch zu verstehen, ist ein für das normale (intuitiv
atomistische) Denken nicht fassbarer Begriff notwendig, nämlich das „dialektisch-logische Zusammenspiel von Teil und Ganzheit“, wie er in diesem auf Torricelli basierenden Beweis von Lambacher-Schweizer
so klar und bildhaft zum Ausdruck kommt.
Das Zenon’sche Paradox von Kapitel 05 ergibt sich durch die eingeschränkte rein atomistische Sichtweise, die die Ganzheit nicht integrieren kann. Das Paradox wird aufgehoben durch die Sichtweise des dialektisch-logischen Zusammenspiels von Teil und Ganzem.
Man sollte dafür einen neuen Begriff prägen, z.B. “ZuTeGa-Sichtweise”. “ZuTeGa” wäre dann eine Abkürzung für “Zusammenspiel
von Teil und Ganzheit”. Oder vielleicht besser kürzer und prägnanter:
TEIGA-Sichtweise
(Abkürzung für “Teil-Ganze-Sichtweise”)
Dass man ohne diese TEIGA-Sichtweise notgedrungen zu Paradoxien gelangt, ergibt sich auch in anderen Feldern außer der Differentialrechnung.
Eine solche Paradoxie ergibt sich nämlich auch bei der Betrachtung der gesellschaftlich-menschlichen Realität. Einerseits denkt man sich quasi
natürlicherweise die Gesellschaft bauklötzchenmäßig als aus den Individuen zusammengesetzt und darum allein aus ihnen erklärbar. Andererseits ist aber leicht zu zeigen, wovor die Meisten aber die Augen verschließen,
dass die Individuen hauptsächlich ‘Produkte’ ihrer Kultur, ihrer Zeit, der sprachlichen, der organisatorischen und technischen Entwicklung, ihrer Familien-Sozialisation, der Institutionen, der
Traditionen und Modeströmungen, kurz: also ihrer Gesellschaft sind. Andererseits kann „die Gesellschaft“ nur durch die Individuen hindurch existieren, ohne diese Individuen und ihre unhintergehbaren
allzumenschlichen Eigenschaften (beispielsweise ihre Gefühls- und Anerkennungs-Bedürfnisse) wäre sie in der Tat nicht existent. Man sieht, es muss irgendeine höhere Form der Erklärung her, die beides miteinander
vereint.
Dahrendorf, der das soziologische Konzept der „Rolle“ für den deutschen Sprachraum publik
machte, stößt in der Soziologie explizit auf die von mir benannte typische Paradoxie des Atomismus. Er nennt sie „das Paradox vom doppelten Menschen“.
Und zwar ist dies für ihn das Problem, wie er wissenschaftlich den „homo sociologicus“ (den
rollenbestimmten Menschen) mit dem „selbstverantwortlichen, freien Einzelnen“ unter einen Hut bekommen kann. Mir ist außer vielen interessanten Details bezüglich dieser Thematik nicht aufgefallen, daß ihm eine
Problemlösung (im wissenschaftlichen Sinne) gelungen ist. Seine Annahme ist wohl, dafür gäbe es keine eigentlich wissenschaftliche Lösung. Somit folgt, daß man in der Rolle als Sozial-Wissenschaftler
gezwungen ist, den homo sociologicus
zu betrachten und Dahrendorfs Schlussfolgerung ist die: „Wer die Melancholie der Unzulänglichkeit einer soziologischen Wissenschaft vom Menschen nicht zu ertragen vermag, sollte dieser Disziplin den Rücken kehren [...]“. Es bleibt Dahrendorf also offenbar nichts anderes übrig, als sich
pragmatisch gegenüber dem „Paradox vom doppelten Menschen“ zu verhalten.
Professor Dahrendorf [Mitte] with Rodrigo Moyniham R.A. [rechts], July 1984. London School of Economics. - siehe Wikimedia
Ich möchte noch kurz auf das intuitive Sträuben, das man gegen Ganzheits-Vorstellungen hegt, eingehen. Die Atomismusvorstellung legt es nahe, sich alles
`Ganze´ lediglich aus der mehr oder minder zufälligen Konfiguration der Teile, der ‘Elemente’, der ‘Elemantarteilchen’ oder der ‘Individuen’, zu erklären. Ein
Ganzes ist etwas, was sich „letztlich“ irgendwie „materiell“ erklären lassen muss, z.B. durch irgendeine hochkomplexe Zufallszusammenballung von
vielerlei zufälligen Einzel-Ereignissen, wie es etwa das Leben im Sinne der Darwinschen Vorstellung von Evolution darstellt. Meine Sichtweise plädiert
nicht unbedingt gegen diese Vorstellung, sieht sie jedoch lediglich als einen Teilaspekt eines Systemkonzepts an. Es bleibt uns meines Ermessens nichts anderes übrig, als uns von diesem einseitigen Atomismuskonzept zu lösen und
stattdessen ein anderes Konzept an seine Stelle zu setzen, eben das Konzept vom gegenseitigen Zusammenwirken eines jedweden Ganzen mit seinen Teilen, die
selber wieder „Ganze“ auf einer anderen (niederen) Ebene oder Stufe sind. Nicht nur die Paradoxie der Differentialrechnung, sobald man sie ernst nimmt,
statt sie wegzudrängen, scheint dieses Konzept zu erzwingen.
Ich formuliere nun folgende, sehr allgemeine,
zusammenfassende philosophische These:
Jedes Neue, jedes „Ding“ kommt nur als Ganzes zur Welt und seine
Einzelteile sind ihm gemäß organisiert - soweit die Eigenschaften der Einzelteile, die selber wieder Ganze (auf niederer Ebene) sind, dies zulassen.
So hangelt sich auch das biologische Leben von einfachen Ganzheiten zu komplexeren Ganzheiten im Laufe der Entwicklung. Sicher spielt da auch
der Zufall eine gehörige Rolle. Nur soweit sich das (vorgegebene) einzelne Ganze mit anderem Einzelnen zur neuen Ganzheit organisieren kann, entsteht `Etwas´.
Schließlich möchte ich noch das sehr instruktive Buch der Philosophin Angelika Krebs (Basel) über das ‘Beziehungsproblem’ erwähnen. Angelika Krebs:
Zwischen Ich und Du. Eine dialogische Philosophie der Liebe. suhrkamp taschenbuch wissenschaft (2063), Berlin 2015. In dem Teil II. des Buches “Das
dialogische Teilen des Lebens” favorisiert sie die holistische Sichtweise, also die ganzheitliche gegenüber einer individualistischen Auffassung.
So formuliert sie in dem Abschnitt 2.3.(ab S.170) “Miteinanderhandeln und Miteinanderfühlen: eine holistische Zwischenbilanz”:
<Einerseits sind also die Urheber geteilter Handlungen mehrere Einzelpersonen.
Andererseits verweisen geteilte Handlungsschemata aber auch auf einen einzigen Akteur, auf eine über das Handlungsschema integrierte Einheit aus verschiedenen Personen, auf ein “Wir”.> (S. 172)
Nach meiner obigen zusammenfassenden These bildet also die Beziehung des
“Wir” eine neue Ganzheit, deren Einzelteile, die Individuen, welche dieses “Wir” gemeinsam bilden, dem “Wir” gemäß organisiert sind. Dieses “Wir” ist
somit eine neue Ganzheit auf einer höheren Ebene als die jeweils einzelnen Individuen es sind.
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